Auf Einladung des AfD-Kreisverbandes Stade referierte der Oldenburger Ingenieur und selbstständige Konfliktberater Georg Kalos am 13.5.2015 über die kulturellen Hintergründe der griechischen Strukturprobleme.
Seine These: Der Euro sei gescheitert, weil die EU-Eliten die über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern von Beginn an ignoriert hätten. So habe die griechische Mentalität gravierende Auswirkungen auf den Staat, die Wettbewerbsfähigkeit und das Verhältnis zur Währung.
Kalos, der in Griechenland aufwuchs, seit seiner Studienzeit in den frühen 1970er-Jahren in Deutschland lebt und seit Jahrzehnten deutscher Staatsbürger ist, beeindruckte das Publikum mit einem gesellschaftlichen Vergleich zwischen Deutschland und Griechenland, den er mit zahllosen Alltagsfällen veranschaulichte. Deutlich wurde: Begriffe und Institutionen haben in Griechenland oft einen anderen Stellenwert oder sogar eine gänzlich andere Bedeutung als in Deutschland. Grundlegend sei die Rolle der Familie:
Sie erfülle in Südeuropa nicht dieselbe Funktion wie hierzulande und überrage den Stellenwert von Freunden und Staat bei weitem. So sei die Verbindung zwischen den Generationen und zwischen den Zweigen der griechischen Familie sehr eng, weshalb unter dem Begriff auch nicht selten 20 oder mehr Personen zu verstehen seien.
Die Angehörigen seien moralisch sehr stark zur gegenseitigen Unterstützung verpflichtet – auch in ihrer beruflichen Funktion: Dass man in der Behörde bevorzugt bedient werde, wenn ein Verwandter in der Amtsstube sitze, sei allgemein akzeptiert. Dies gelte auch für die Besetzung von Arbeitsplätzen im Staatsdienst: „Sie haben als Beamter die ‚moralische‘ Pflicht, ihre Verwandten zu bevorzugen. Die Leistung ist kein Kriterium“, so Kalos. Der griechische Beamte sei nicht in erster Linie ein Vertreter des Staates, sondern ein Mitglied einer Familie.
Auch das Verhältnis zur Freundschaft unterscheide sich grundlegend: „Hier habe ich drei bis vier gute Freunde“, so der deutsch-griechische Unternehmer, „in Griechenland mindestens hundert.“ Dies liege aber nicht daran, dass er in Deutschland einsam sei. Vielmehr sei es so, dass im Süden Freundschaften schneller geschlossen – und auch wieder vergessen würden. In der Regel seien sie vor allem zweckorientiert. Sich unter Freunden etwas zu „versprechen“, habe dementsprechend einen anderen Stellenwert als im Norden: Es bezeichne eher eine Möglichkeit als einen Treueschwur. „Das ist auch ein Grund dafür, dass es in den europäischen Verhandlungen immer wieder zu Missverständnissen kommt, wenn Finanzminister Varoufakis Versprechen abgibt“, so Kalos. Überhaupt seien die sprachlichen Unterschiede ein großes Problem, wie er anhand verschiedener Beispiele verdeutlichte. Deutsche, Franzosen und Griechen sprächen in Brüssel in der angelernten, aber nicht gelebten Sprache Englisch miteinander, meinten deshalb entsprechend ihrer Kultur mit denselben Vokabeln Unterschiedliches, sodass es bei der Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen immer wieder Ärger gebe.
Nicht verstanden werde im Norden zudem die Rolle der griechischen Politiker. 400 Jahre osmanischer Herrschaft hätten im Süden massive Spuren in Identität und Verhaltensmustern hinterlassen:
„Griechenland ist ein paternalistisches System, der Staat die moderne Variante des Feudalherren und die Politiker haben sich zu unverzichtbaren Vermittlern zwischen Staat und Familien gemacht“, so Kalos, der in Griechenland bestens vernetzt ist. Gesetze seien bewusst so konstruiert, dass man als Bürger nur zu seinem Recht kommen könne, wenn man einen Parlamentarier einschalte: „Andernfalls müssen Sie sich auf einen Prozess mit mindestens 10 Jahren Streitdauer einstellen.“
Aus diesen Gründen spreche der Bürger nicht auf Augenhöhe mit seinem Abgeordneten, sondern immer mit leicht gesenktem Blick. In Gesprächen gehe es zudem nicht nur um die politischen Probleme. Vielmehr versorge der Abgeordnete die Kinder des Bittstellers auf dessen Wunsch hin mit Arbeitsplätzen im Staatsdienst. Werde der Sohn erfolgreich untergebracht, sei der ganze Familienverband zur dauerhaften Dankbarkeit verpflichtet – und damit vor allem zur Stimmabgabe. Die Qualifikation des Versorgten spiele hingegen keine Rolle. Dies erkläre, warum es im griechischen Staatsdienst so viele unfähige Beamte gebe.
Auch die meisten griechischen Privatbetriebe seien von der Politik abhängig. Da sie traditionell nicht wettbewerbsfähig seien, könnten sie nur mit Staatsaufträgen überleben und hätten sich dafür zu revanchieren: So füllten sie beispielsweise die schwarzen Kassen der Parteien und Politiker auf allen Ebenen. Mit dem Geld werde die Loyalität der Wähler während der Wahlkämpfe gesichert, die mit einem weitaus höheren finanziellen Aufwand als in Deutschland betrieben würden: Der griechische Bürger werde im wahrsten Sinne des Wortes gekauft. So sei es selbst unter Lokalpolitikern üblich, darüber nachzudenken, wer eine Wohltat gebrauchen könne: „’Stimmt es, dass Fischer x einen neuen Bootsmotor für 3000€ benötigt?‘ – ‚Ja, der alte ist kaputt.‘ -‚Wie viele erwachsene Angehörige hat er denn?‘ – ‚Etwa zwanzig.‘ – ‚Dann bekommt er den Motor.’“ Der Fischer erhalte nun das Geld, der Bürgermeister fortan die Stimmen.
Auf die Frage aus dem Publikum, ob der Erdrutschsieg der Syriza-Partei nicht einen Widerspruch zu diesem angeblich unverbrüchlichen Treueverhältnis darstelle, antwortete der Deutsch-Grieche Kalos: „In Griechenland ist Demokratie ein reines Kunden-Lieferanten-Verhältnis. Ich gebe dir etwas, du gibst mir etwas.“ Die langjährigen Regierungsparteien hätten sich aber seit 2010 wegen der Geldnot dem Druck der Troika beugen und erste schmerzhafte Einschnitte beschließen müssen. Weil sie somit erkennbar nicht mehr liefern konnten und die alten Lebensgewohnheiten der Bürger in Gefahr schienen, seien die alten Parteien abgestraft worden. Syriza hingegen habe die Hoffnung genährt, das alte System aufrechterhalten zu können. Dies gelte auch für den Staatsdienst: „Die Troika hat verlangt, dass Beamte nach Leistung bewertet werden. Viele Griechen jammern zwar über unfähige Beamte, wollen aber ihre eigenen Kinder versorgt sehen. Deshalb hat Syriza die Beurteilung wieder abgeschafft.“
Überhaupt sei es ein Irrglaube, zu meinen, dass die Griechen extrem unter den Verhältnissen litten. Man habe sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte mit dem System arrangiert, zumal man auch nichts anderes kenne. Dies hänge auch mit der geografischen Lage zusammen: Nachbarstaaten wie Albanien, Bulgarien oder die Türkei könnten auch keine positiveren Anregungen bieten.
Auf den Wandel hofften vor allem diejenigen Griechen, die lange Zeit im westlichen Ausland gelebt und dort einen ganz anderen Blick auf die Dinge gewonnen hätten: „Wir warten schon seit 2010 darauf, dass endlich der Stecker gezogen wird“, so Kalos. Anhand eines privaten Mautprojekts des deutschen Baukonzerns Hochtief verdeutlichte er, dass ein Wandel zumindest punktuell möglich sei, wenn die Menschen vor Ort die positiven Folgen erleben können: „Auf einmal wurden die Mautzahler von geschultem und nach Leistung ausgewählten Personal höflich behandelt und zügig bedient. Das hat so großen Eindruck gemacht, dass es auf andere Mautprojekte übertragen wurde.“ Leider gebe es aber in Deutschland zu viele Gutmenschen, die jede Härte scheuten und die Zähigkeit der Tradition unterschätzten oder ignorierten. „Wenn Frau Merkel sagt, ‚Der Euro wird nicht scheitern‘, wird das in Griechenland als Einladung verstanden, nichts zu ändern.“
Die Scheu der EU-Politiker, sich mit kulturellen Unterschieden zu beschäftigen, mache auch vor der Währung selbst nicht Halt: Vor dem Hintergrund der tief verwurzelten kulturellen Traditionen machte Kalos deutlich, dass Geld in Griechenland eine ganz andere Funktion besitze als in Deutschland: Im Süden sei es lediglich ein Tauschmittel zur Erfüllung von Bedürfnissen und diene nicht der Wertaufbewahrung. „Warum das Geld knapp gehalten werden soll, versteht man in Griechenland nicht“, so Kalos. „In Deutschland hingegen wird Geld als Beweis für die Lebensleistung der Bürger verstanden und ist – gerade nach den verlorenen Weltkriegen – eine Säule des deutschen Selbstbewusstseins.“ Die Kultur sei somit die tiefere Ursache, warum eine gemeinsame Währung zum Scheitern verurteilt sei.
„Meiner Ansicht nach gibt es in der jetzigen Situation zwei Möglichkeiten“, schlussfolgerte Kalos. „Erstens die kulturelle Annäherung. Aber wie viel Zeit wollen Sie aufbringen? 300 Jahre? Realistisch ist deshalb nur die zweite Variante: der Austritt Deutschlands aus der Eurozone.“
Astrid zum Felde, Vorsitzende des AfD-Kreisverbandes Stade, wertete die Veranstaltung als vollen Erfolg: „Die hohe Überzeugungskraft der Analyse speist sich nicht zuletzt daraus, dass Herr Kalos Kultur und Sprache der beiden Ländern aus tiefer eigener Erfahrung heraus versteht und deshalb Realität und Vorurteil unterscheiden kann.“
Zudem zeigten sich die Zuhörer davon beeindruckt, dass der Referent erkennbar über vertiefte ökonomische und historische Kenntnisse verfügte und die zahlreichen Nachfragen plausibel beantworten konnte. Auch nach Ende des Vortrags ergaben sich noch angeregte Gespräche.
Fazit: Wer die strukturellen Ursachen der Euro-Krise verstehen möchte, sollte Herrn Kalos unbedingt einladen. Seine Ausführungen stellen ein perfektes Fallbeispiel für die Theorie des französischen Historikers Fernand Braudel dar, die unter dem Begriff „longue durée“ bekannt geworden ist: Braudel erklärt mit den tiefen und beständigen kulturellen Wurzeln der Nationen, warum gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungsprozesse gelingen oder auch scheitern können.